Katerina Karakassi, Universität Athen

Literatur und Geschichte: Der Fall Kafka

Die „Ästhetisierung der Geschichte“ und die gleichzeitige „Historisierung der Literatur“, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunimmt, scheint vordergründig die Dichotomie zwischen Literatur und Geschichte zu hintergehen. Das ist jedoch die eine Seite der Medaille. Die andere ist die Abkehr der Literatur vom historischen Denken und historischen Sujets, das Misstrauen gegen die teleologische Ausrichtung der Geschichtsschreibung, ja die Infragestellung der Evidenz der individuellen und der kollektiven Erinnerung.
Fragmentierung und Diskontinuität, Inkohärenz und Destruktion des Sinns, a-mimetische und experimentelle Darstellungstechniken, der Versuch, die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Dichtung neu zu beantworten, sind nur einige der Effekte dieser Problematisierung der (Un)möglichkeit(en) der Geschichtsschreibung in der Literatur. Spuren dieses angespannten Verhältnisses zwischen Literatur und Geschichte tauchen in literarischen Werken des aufgehenden 20. Jahrhunderts in wachsendem Maße auf, und zwar auch in solchen fiktionalen Texten, in denen historische Ereignisse kaum eine Rolle zu spielen scheinen, bzw. in denen Fragen zur Wechselbeziehung von Fiktion und Historie nicht explizit gestellt werden. Ein solcher Fall ist auch der Fall von Kafka.
Ziel meines Beitrags ist, das Spannungsfeld zwischen Literatur und Geschichtsschreibung am Anfang des 20. Jahrhunderts kurz zu skizzieren. Als corpus delicti wird dabei die implizite geschichtsphilosophische Problematik im Werk Kafkas dienen.