Hugo Dyserinck, RWTH Aachen

Komparatistische Imagologie und die Problematik der europäischen „Vielvölkerregionen“

Nach der in unserem Aachener Komparatistikprogramm vollzogenen Abrundung der imagologischen Methoden und Zielsetzungen als unumstößliche Bestandteile einer Vergleichenden Literaturwissenschaft bzw. der Literaturwissenschaft überhaupt, stellte sich unwillkürlich die Frage, inwiefern komparatistische Imagologie nunmehr – über alle ästhetischen Zielsetzungen hinaus und dennoch als eindeutiger Bestandteil der Kultur- und Geisteswissenschaften – noch an Forschungsaufgaben zu bieten hatte. Das hießt konkret: die Frage zu stellen, was das Kapitel „L’Étranger tel qu’on le voit“ im Sinne von Themen „dont l’intérêt dépasse la seule littérature“ (wir bedienen uns bewusst der 1951 im Pariser Programm (cf. Coll. Que-sais-je? Nr.724) benutzten Formulierung) noch an Lehr- und Forschungsgebieten vorzuschlagen hatte.
Die Erkenntnis des ontologischen Status der Images und imagotypen Strukturen als Gegenstände der Welt 3 (im Sinne von Karl Popper) hat uns gelehrt zu sehen, welche Rolle sie in der Welt des nationalen Denkens – und seiner Überwindung – zu spielen vermögen. Und als eins der wichtigsten Ergebnisse unserer seit den fünfziger Jahren durchgeführten imagologischen Untersuchungen konnte – in Verbindung mit der Beseitigung von Begriffen wie Völkerpsychologie und Volksseelen – die Relativierung des Denkens in nationalen Kategorien selbst gelten.
Kein Fach hat, in der Tat, besser als das unsrige den fiktiven Charakter der besagten nationalen Begriffe und Konzepte nachzuweisen vermocht; uns gelang es, indem wir eben ihr historisches Entstehen nachzuweisen in der Lage waren. Und schließlich hat das imagologische Verfahren zu guter Letzt nicht nur die Fiktionalität der Begriffe „Volks-“ und „Nationalcharakter“ nachweisen können, sondern sogar die Begriffe „Volk“ und „Nation“ selbst relativiert.
Illustrieren konnten wir die Feststellungen konkret genommen vor allem durch eine Analyse der „nationalen“ Vorstellungen in einer der bekanntesten Vielvölkerregionen unseres Kontinents: dem Benelux-Raum in seiner geschichtlichen Entwicklung vom Mittelalter bis zur Gegenwart.